Stefano Boeri

Eklektische Atlanten

(Boxes)

Box 1

Mit verengtem Blick mitten im Raum

Eine Gruppe vereinzelt stehender, über ein Vorstadtgebiet verstreuter Häuser: im europäischen Territorium eine typische Situation. Wenn man sie auf einer topographischen Karte darstellt, lassen sich nur einige unregelmäßige, undechiffrierbare geometrische Figuren erkennen. Eine Betrachtung von innen dagegen sagt demjenigen, der auf der Suche nach Anhaltspunkten über die Beziehung der Bewohner zu ihrem Wohnort ist, sehr viel mehr. Die Einbeziehung ungewohnter Räume und Objekte (zum Beispiel Schuppen, Werkstätten, Nutzgärten, Spielgeräte usw.) in das umzäunte Gebiet einer Parzelle etwa könnte darauf hindeuten, daß das Wohnhaus der Großeltern - komplexer als die anderen - häufig zu einem "zentralen" Bezugspunkt für die übrigen Teile der Familie geworden ist. Für Familien ist es in den weitläufigen Städten vielfach zu einer Gepflogenheit geworden, zwar "getrennt", aber "dicht beieinander" zu wohnen; wodurch sich zu einem Gutteil die "traubenartige" Anordnung der Einfamilienhäuser erklären läßt.

Wir müssen es uns zu eigen machen, die Gesetze und Regelmäßigkeiten, die weite Teile des Territoriums prägen, vor Ort zu suchen, durch punktuelle Sondierungen zu erforschen. Gerade weil sich in Europa der größte Teil der Neubauten aus einem begrenzten Repertoire an Gebäudetypen zusammensetzt (Einfamilienhaus, Reihenhaus, Mehrfamilienhaus, die Werkstatt mit Wohnung, die "Mischung" Wohnhaus/Geschäftsgebäude und so weiter), die auch als Modelle für die eine oder andere lokale Variante dienen, kann es uns gelingen, den Grad des Widerstands zu erfassen, auf den der jeweilige Prototyp gerade an den Orten stößt, wo er immer wieder auftritt.

Wir müssen lernen, die "Biographie" eines Ortes zu rekonstruieren und diese mit den "Lebensläufen" der "urbanen Fakten" vergleichen, die von eben diesen Wiederholungsprozessen hervorgebracht wurden. Wir müssen die scheinbare Wiederkehr des Immergleichen zum Ausgangspunkt nehmen, um von innen heraus, taktil die Unterschiede aufzuspüren.

Box 2

Den Raum während des Prozesses seiner Veränderung schräg von oben betrachten

Zu Beginn der 80er Jahre überflog ein kleines Touristenflugzeug in etwa 200 Meter Höhe über einen längeren Zeitraum hinweg die Peripherie von Kopenhagen. Im Cockpit des Flugzeugs saß ein dänischer Architekt, Carsten Juel-Christiansen, der mit leicht schräger Optik-Achse Bildsequenzen photographierte. In dieser ungewöhnlichen Flug-Enzyklopädie (1985 unter dem Titel "Monument & Niche" The Architecture of the New City publiziert) gewinnen die dargestellten Räume durch den nahezu axonometrischen Blickwinkel des Photographen, der die dreidimensionale Konsistenz der Festkörper sowie ihr Alter zu erkunden imstande ist, eine (auch zeitliche) Dichte. Sie werden zu "urbanen Fakten", raum-zeitlichen Ereignissen, die in der Zeit eine Spur hinterlassen und auf die Gesellschaft einen Schatten werfen: Spuren und Zeichen von Wohnstilen oder von der Abnutzung der Gebäude beispielsweise.

Ein zenitaler und gleichzeitig "schräger" Blick verhilft uns dazu, die einzelnen Eruptionen zu erkennen, die das Territorium verändern und gleichzeitig die seltsamen Entwicklungsassonanzen zu begreifen, die diese Eruptionen miteinander in Beziehung setzen. Ein "schräger" Blick auf die große Mailänder Region zum Beispiel hat uns gezeigt, wie verschiedene, entfernt voneinander liegende Räume sich durch "Metamorphosen" gleichzeitig verändern können, das heißt durch zunächst unmerkliche, winzige Modifikationen eines städtischen Gebietes, das aber ab einem gewissen Punkt seinen Charakter völlig verändert: etwa durch die Auswirkungen eines "linearen Attraktors" (das kann eine Reihe von Gebäuden sein, die an einer Geschäftsstraße, an einem Flußpark, in einer Fußgängerzone nebeneinanderstehen) oder durch das plötzliche Hinzukommen eines eigentlich unbedeutenden Elements, das sich dann aber als große Attraktion erweist (zum Beispiel ein Shopping-Center oder ein Freizeitgelände) oder durch die immer zahlreicher werdenden, auf sich selbst bezogenen "Inseln", innerhalb deren Parameter sich dieselben Objekte und Lebensstile ständig wiederholen (wie das unter anderem in den Industrieansiedlungen, in den bewachten Wohngebieten oder gelegentlich in den Aufnahmelagern für außereuropäische Immigranten der Fall ist). Wer den Lauf der Zeit von oben betrachten will, sollte den Kopf geneigt halten.

Box 3

Die Stadt belauschen: Sektionierung des bewohnten Territoriums

Um die gegenwärtige Stadt in ihrer ganzen Dimension darzustellen, sind topographische Karten ungeeignet. Auf diesen vom zenitalen Paradigma inspirierten starren Darstellungen ist eine Stadt an der Verdichtung des Bauvolumens innerhalb einer klar umrissenen Grenze zu erkennen. Heutzutage erfordert aber die enorme Mobilität innerhalb des Territoriums, das Ausufern der Stadt zum Land hin sowie die Umkehrung der Beziehung Zentrum - Peripherie (viele zentrale Orte liegen außerhalb des Zentrums, viele der Verwahrlosung anheimfallende Gebiete dagegen zentral) einen ganz anderen Blick, der nicht bei der Entschlüsselung zweidimensionaler, geometrischer Figuren verharrt..

Dieser Blick muß sich die Methode des geologischen Schnitts zu eigen machen anstatt lediglich verschiedene Zonen zu unterscheiden: ein Blick von oben, der aber beweglich ist und umherwandert; der dem Beobachter wieder eine subjektive Verantwortung zugesteht; der gewillt ist, die vorhandenen urbanen Beziehungen auch in den Gebieten außerhalb der historischen Stadtgrenzen und in den nicht so dicht besiedelten Gebieten zu belauschen statt immer nur
(wieder-)zuerkennen.

In der Eingangshalle des italienischen Pavillons bei der VI. Biennale Internazionale dell'Architettura 1996 wurde eine photographische Bestandsaufnahme des italienischen Territoriums präsentiert. Die Photographien Gabriele Basilicos zeigten anhand von sechs Ausschnitten der italienischen Landschaft all das, was sich in ihr verändert hat. Die Ausschnitte orientierten sich vom Zentrum einiger großer Konurbationen (Mailand, Venedig, Florenz, Rimini/Riccione, Neapel, Gioia Tauro) nach außen an einer Hauptleitlinie 50 Kilometer in die Länge und 12 Kilometer in die Tiefe. Auf diese Weise dokumentierten die sechs Sequenzen mit je 150 Bildern ein von einer Flut fast identischer, einzeln stehender Bauten überschwemmtes Territorium, in dem völlig neue Formen städtischer Milieus entstehen. Sie bleiben die dem beiläufigen synoptischen Blick unsichtbar. Diese Sektionen des bewohnten Territoriums entstanden durch die präzise Festlegung von Koordinaten des jeweiligen optischen Feldes - Rahmen, Tiefe, Sensibilität und so weiter -, die man wie Sensoren über den mineralischen Raum gleiten ließ.

Box 4

Wahrnehmungsstreifen

Fernsehen, Auto, Parkplatz, Einkaufszentrum, Parkplatz, Auto, Fernsehen. Denken wir einmal darüber nach, wie wir die großen Freizeit- und Einkaufszentren frequentieren, mit denen unsere Städte übersät sind. Wir kommen von unserer Wohnung aus direkt dort an, nachdem wir mit dem Auto endlose Strecken durch suburbanes Territorium zurückgelegt haben. Auf dem Parkplatz ist ein kurzes Stück zu Fuß das einzige Segment von "wirklicher" Außenwelt. Wir lassen dann das Wetter und die Zeit hinter uns und treten ein in ein großes, künstliches, klimageschütztes Ambiente, in dem wir uns inmitten von Menschen bewegen, die - mit leichten Abwandlungen -ähnliche Aktionen vollführen wie wir. Ist die subjektive Zeit unseres Besuches vorbei, läuft in umgekehrter Reihenfolge die gleiche Erfahrungssequenz noch einmal ab: der kontrollierte Ausgang, der kurze Kontakt mit der Außenwelt auf dem Parkplatz, das Auto, der stete Fluß der Landschaften, die an der Windschutzscheibe vorüberziehen, die Schwelle unserer Wohnung ...

Die großen Container haben die Eigenart, die Zeit in unserer Wahrnehmung zu dehnen - so als brächten wir dort mehr Zeit zu, als wir tatsächlich für ihren Besuch aufwenden -; und die unterschiedlichsten Räume werden daher in der zerstreuten Wahrnehmung als einheitlich erlebt. Dies ist nur ein Beispiel für Intensität und Einfluß dieser "Wahrnehmungsstreifen", die im heutigen Stadtleben immer wiederkehren.

In der europäischen Stadt der Gegenwart gewinnen die Orte viel eher eine Bedeutung durch ihre Konstellation im Zeitfluß der Alltagserfahrung als durch ihre reale Position im geographischen Raum. Wir bewohnen die Stadt, indem wir uns auf eine begrenzte Anzahl dieser Landschaftssequenzen einstellen, wie im Falle des symmetrischen Übergangs zwischen unserer Wohnung und dem Einkaufszentrum oder der "ruckartigen" Sequenz (die kontinuierliche Abfolge des stop and go), die uns begleitet, wenn wir zum Beispiel die modernen Verkehrsmittel benutzen.

Es sind kleine, immer wiederkehrende Sequenzen, die zunehmend größere Anteile unserer Zeit vereinnahmen. Und: Unsere Identität als Stadtbewohner ist oft bestimmt durch die Häufigkeit, mit der diese Streifen in unserem täglichen Leben wiederkehren, und durch ihre Hierarchie.