Körper
im elektronischen Raum
Modelle für Menschen und interaktive Systeme
Im Siegeszug eines technisch begründeten Multimedialisierungsmythos
artikuliert sich erneut der Bedarf an Differenzierung etlicher grundlegender
Aspekte und Modalitäten menschlicher und maschineller Kommunikation.
Die aktuelle Debatte um den (immateriellen) Kode verdichtet sich in
einigen wiederkehrenden Fragen an das konkret Materielle und mündet
öfters in einem medientheoretischen Durcheinander, das die jeweiligen
Prämierungskämpfe zwischen Soft- und Hardware, zwischen dem
Gedanken- und dem Körpermenschen in der Medienpraxis zu unterlaufen
scheint. Die zentralen Streitgegenstände sind nach wie vor der
biotische und zunehmend technisch bestimmte menschliche Körper,
(s)ein gleichfalls technisierter Raum sowie die (primär) maschinelle
und die (zunehmend) organische Schnittstelle samt ihrer Hybride. Software
funktioniert kaum ohne Hardware und nicht nur Computer, auch Menschen
sind als interaktionsfähige Multimedien längst erkannt worden
– lediglich scheint die Erkenntnis weiterhin einer ausgewogenen
konkreten Umsetzung in Bereichen Kunst, Pädagogik und Alltagsnutzung
zu bedürfen. Andererseits übermitteln einflussreiche wissenschaftliche
Diskurse, insbesondere noch ihre populären Reflexionen nur selten
die (kultur)relevantesten Impulse aus der interdisziplinären Praxis.
Interaktion zwischen Menschenkörper und Maschinenschnittstelle
sowie Transformation zwischen kognitiver und digitaler Information beschreiben
weiterhin ein aktuelles medienwissenschaftliches Interessengebiet.
Bedeuten die kursierenden medientheoretischen und –praktischen
Diskurse eine automatische Degradierung des organischen Körpers
zur mangelhaften Schnittstelle zwischen dem Einzelnen-in-(s)einem-Körper
und dem Computerraum-in-allen-Köpfen? Zunehmend gewichtige theoretische
Reflexionen einer breiten biokörperaffirmativen Praxis verweisen
auf fruchtbare Nischen für die "veraltete Hardware" und
ihre biologisch immanenten multimedialen Kommunikationspotentiale. Wie
revidieren wir nun die Visionen des total aufgerüsteten Technokörpers
zu einem realisierbaren - tatsächlich bereits mehrfach realisierten
– „nachhaltigen Cyborg“? Es scheinen sich erste künstlerisch
sowie technologisch plausible Positionen anzubieten, die zwischen einer
ganzheitlichen Empfindung des (eigenen) Körpers und der partikularen,
analytisch-funktionalistischen Perspektive der Maschine oszillieren.
Artverschiedene Zeichen und Impulse der biotechnischen Menschmaschine
können aufeinander abgestimmt werden, allerdings scheint es angemessener,
an aufeinander abgestimmten Diskursen und Praxen sowie an deren Reflexion
zu arbeiten. Welche Bedingungen und Möglichkeiten bieten sich angesichts
neuester technologischer und ästhetischer Entwicklungen für
eine ausgewogene Praxis von Medienkunst, -wissenschaft und -nutzung?
Wie (be)schreibt sich in diesem interdisziplinären Feld eine Ökologie
des elektronischen Raumes, die sich der verschiedenen Körperkulturen
bewusst bleibt - und wie kann sie konkret umgesetzt werden?
Im Schnittbereich von Wissenschaft, Kunst und Technik bemüht sich
die vorliegende Arbeit um Erschließung innovativer Impulse zu
einem nach wie vor relevanten Thema, dem (mannigfaltig zu verstehenden
und zu realisierenden) Körper-im-Raum – sowie um Begründung
von Methoden seiner medial und diskursiv gerechten Erfassung, dies sowohl
aus kulturkritischer und diskursanalytischer wie auch aus einer konkret
praktischen Perspektive der Medienkunst, -didaktik und sogar -technologie.
Die Frage nach einer Rematerialisierung als positiver Miteinbeziehung
des menschlichen Körpers samt seines natürlichen Erfahrungs-
und Entwicklungspotentials wird aufgrund aktuellster Forschungsergebnisse
positiv beantwortet. Grundlegende Untersuchungen verweisen auf die wahrhaft
interdisziplinären und multimedial offenen (also auch konkret körperlich
besetzten) Experimentalräume der computerunterstützten Theater-,
Tanz- und Installationsprojekte sowie einiger Initiativen in der Technikindustrie,
bei denen ein konstanter Kreativitätsüberschuss von bedeutender
(diskursiver sowie praktischer) Symptomatik zu entstehen scheint. Als
Gegenmythos zum entmaterialisierenden Cybereskapismus bestätigt
sich bereits eingehend die These von erneuter Aufwertung und Emanzipation
der (immer wieder übereilt verabschiedeten) Physis im Interesse
eines ökologisch ausgewogenen Umgangs mit neuer Technik. Vor diesem
Hintergrund sollen konkrete Vorschläge exemplifiziert und plausible
Visionen präzisiert werden:
Stellenweise als künstlerisch, wissenschaftlich sowie erfahrungsgemäß
begründete Hypothesenbildung, meistens jedoch erst als praktisch
informierter Diskurs erfolgt eine Modifizierung von Grundkonzepten (Körper,
Raum, Schnittstelle, Interaktivität), die wiederum die alltägliche
kreative Körper- und Mediennutzung zyklisch beeinflussen können
(reflektierte Theorie, erlebte Praxis), dies sowohl im intimen, selbstreflexiven
als auch im öffentlich-diskursiven, massenmedialen Feld. Die daraus
erwachsende theoretische Reflexion dient als Basis für die praktische
Gestaltung von umsichtig regulierten Diskursen und Programmen innerhalb
der relativ vorgegebenen, jedoch ebenfalls aufweichenden Strukturen
und Systeme (Medien- und Kunstpädagogik, interdisziplinäre
Einrichtungen, außerinstitutionelle Initiativen). Zu deren Fundierung
werden jedoch nicht nur die Diskurse der wissenschaftlichen Theoriebildung,
sondern auch die prägendsten Konzepte der Medienkunstpraxis - sowohl
interaktive
Systemtechnik als auch menschliche
Informationsverarbeitung im interaktiven Raum - einer stellenweise
genaueren Sondierung, Analyse und Kritik unterzogen. Untereinander dynamisch
ausgewogene Konzepte von Projektarbeit,
Dialog und Ökulog modellieren schließlich ein Novum im
Bereich der interdisziplinären Kooperation. Die hypermedial (am
vernetzten Multimediacomputer) zu erfahrenden Modelle verstehen sich
als konkrete Vorschläge für ein theoretisch (Diskurs- und
Programmbildung) sowie praktisch (Struktur- und Systembildung) ausgewogenes
Kommunizieren und Handeln sowohl auf individuellem als auch auf kollektivem
Niveau. Damit dienen sie als eine erste theoretisch-praktische Orientierungshilfe
für den vielfach aufkommenden medial hybriden Realitätskomplex,
das Zeitalter der gemischten Realitäten.
Im Aufbau der Dissertationsarbeit bieten der Körper, seine elektronisch
durchsetzte interne und externe Räumlichkeit und deren neue interaktive
Qualitäten - zunächst in linearer (obwohl grundsätzlich
hyper)textueller Form - einen unorthodoxen theoretisch-historischen
Hintergrund. Somit skizzieren sie auch den aktuellen (mythen-, metaphern-
und stereotypenreichen) Forschungsstand. Genauer werden die Konzeptionen
von Körper und Raum nochmals unter Aspekten wie Interaktivität,
Schnittstelle, Telematik, Illusion/Immersion betrachtet. Auf dem Hintergrund
ihrer Konfrontationen unterbreitet sich eine exemplarisch besetzte Palette
einiger "geschichtemachender" Projekte aus der hochproduktiven
"hybriden Kunstszene". Von den netz- und datenträgerbasierten
Arbeiten über (lokal) interaktive elektronische Rauminstallationen
zu den (global vernetzten) Mischformen der „telematischen Performance“
und den sog. "Mixed Reality Environments" bemüht sich
die Untersuchung stets, für aktuelle Anregungen aus der Praxis
offen zu bleiben - sowie einige selbst anzubieten (siehe insb. die elektronische
Version samt Videodokumentation). Anhand tiefgreifender Empirie sollen
schließlich sowohl die fruchtbarsten praktischen Ansätze
als auch einige wichtige theoretische Konzepte und Modelle für
weitere Forschung ausgelotet und stellenweise präzisiert werden.
Dies umfasst eine Durchführung und komplexe Analyse von Video-Interviews,
nähere Auswertung von Workshopdokumentationen Dritter, Symposien-
und Mailinglist-Beiträgen wie auch des eigenen Dokumentationsmaterials,
darüber hinaus auch Selbstbeobachtung sowie Partizipation des Verfassers
in einer fortlaufenden wissenschaftlich-künstlerischen Praxis (Workshops,
Performances).
Die methodischen Ansätze der Kommunikativen
Sozialforschung ermöglichen eine zyklische Verifizierung bzw.
Modifikation von Hypothesen sowie eine kommunikativ intensive Rückkopplung
der Forschungsergebnisse an das primär untersuchte System (interdisziplinäre
Gruppe
"Palindrome
IMPG")
- und nicht zuletzt ihre elektronische, hypermediale Modellierung. Die
intensive, sogar intime Kommunikation und praktisch produktive Kooperation
mit der untersuchten Gruppe resultiert nicht nur in (einmaliger) Verbesserung
des untersuchten Systems, sondern auch in (längerfristiger) beidseitiger
und projektübergreifender Zusammenarbeit. Zudem bietet die Kommunikative
Sozialforschung eine besonders einsatzfähige, methodische Grundlage
zur Untersuchung eines solch hochkomplexen Phänomens wie interdisziplinäre
Kooperation im Begegnungsfeld zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik.
Eine elektronische (umfassende) Speicherung von affektiven Daten und
ihre digitale (detaillierte) Auswertung erweitert die Kombinationsmöglichkeiten
zwischen verschiedenen Medien- und Wissensformaten, die eine objekt-
und i. d. S. komplexitätsgerechte Darstellung im interdisziplinären
Kontext ermöglichen. Nicht nur die personalisierten Interviews,
sondern auch diverse Videodokumentationsquellen sowie Strategien der
teilnehmenden Beobachtung und Selbstreflexion fließen in eine
eigenständige intermediale, (hyper)textuelle, hypergraphische sowie
performative Neuschöpfung.
Interviews und Kollaborationsprojekte mit KünstlerInnen, TechnikerInnen
und WissenschaftlerInnen wie auch die Analyse ihrer vernetzten Kommunikation
und Publikation (Diskursbildung) liefern Material für eine repräsentative
Bestandsaufnahme und dienen als Anregungen und Argumente zur fortwährenden,
sowohl kritischen als auch visionären Ausbildung einer fruchtbar
hybriden (interdisziplinären, intermedialen) Kulturpraxis. Einzelne
Erfahrungen und Untersuchungsergebnisse fließen gleichzeitig in
die Entwicklung einer mehrfach ausgewogenen und komplexen Medientheorie-als-Praxis,
die nicht nur in der wissenschaftlichen bzw. didaktischen, sondern auch
in der künstlerischen Tätigkeit des Verfassers und seiner
sozialen Umgebung ihren Niederschlag finden sollen (konkrete Projekte
innerhalb und außerhalb von Institutionen). Neben einer explorativ
angelegten CD-ROM samt online Version umfasst das Projekt noch eine
Performancereihe im Rahmen der Workshops sowie als Teil des öffentlichen
Vortrags zur Promotion.
Mit zahlreichen Ausführungen allgemeiner kultur- und technologiekritischer
Aspekte über Körper im elektronischen Raum sowie durch eine
aktualitätsbemühte, de- sowie präskriptive Schwerpunktsetzung
dimensioniert die vorliegende Arbeit ihre Ansprache in zweierlei Ordnungen:
Zunächst richtet sie sich mit ihren konkreten Praxisbeispielen,
Vorschlägen und Modellen an einen disziplinär gemischten,
obwohl größtenteils milieukohärenten RezipienetInnenkreis
der medienkünstlerischen sowie –pädagogischen Praxis.
Die Modellierungen und zahlreichen Implikationen zur jeweiligen disziplinären
Perspektivierung dienen jedoch auch zur Diskursreflexion in verschiedenen
theoretischen Kontexten wie etwa Körper- und Raumdiskurs(kritik),
Theorie Neuer Medien, Tanz- und Theaterwissenschaften, teilweise Performancetheorie
und Kunstgeschichte. Durch ihre formatspezifische Zugänglichkeit
(etwa auch kostenlos online), zahlreiche informationsreiche Ausführungen
zu Technologien und Techniken der neuen Medien(kunst) und einen kulturbewusst
geschichteten und argumentierten Eklektizismus adressiert das Projekt
nicht zuletzt einen breiteren Kreis von NutzerInnen, denen ein ermunterndes
Angebot an Einstiegspunkten in die neumediale Theorie und Praxis sowie
an deren Reflexionsmöglichkeiten unterbreitet wird.
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zur online Veröffentlichung der Dissertation >>
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Peter Purg,
Universität Erfurt,
Literaturwissenschaft
/ Medien
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