Promotionsprojekt von Peter Purg, dr. phil.

Mentoren: Prof. Dr. Michael Giesecke, Prof. Dagmar Demming

Veröffentlichung (digital) auf dem Server der DBT unter
http://www.db-thueringen.de/servlets/DocumentServlet?id=2934
am 4. Mai 2005

Körper im elektronischen Raum
Modelle für Menschen und interaktive Systeme

Im Siegeszug eines technisch begründeten Multimedialisierungsmythos artikuliert sich erneut der Bedarf an Differenzierung etlicher grundlegender Aspekte und Modalitäten menschlicher und maschineller Kommunikation. Die aktuelle Debatte um den (immateriellen) Kode verdichtet sich in einigen wiederkehrenden Fragen an das konkret Materielle und mündet öfters in einem medientheoretischen Durcheinander, das die jeweiligen Prämierungskämpfe zwischen Soft- und Hardware, zwischen dem Gedanken- und dem Körpermenschen in der Medienpraxis zu unterlaufen scheint. Die zentralen Streitgegenstände sind nach wie vor der biotische und zunehmend technisch bestimmte menschliche Körper, (s)ein gleichfalls technisierter Raum sowie die (primär) maschinelle und die (zunehmend) organische Schnittstelle samt ihrer Hybride. Software funktioniert kaum ohne Hardware und nicht nur Computer, auch Menschen sind als interaktionsfähige Multimedien längst erkannt worden – lediglich scheint die Erkenntnis weiterhin einer ausgewogenen konkreten Umsetzung in Bereichen Kunst, Pädagogik und Alltagsnutzung zu bedürfen. Andererseits übermitteln einflussreiche wissenschaftliche Diskurse, insbesondere noch ihre populären Reflexionen nur selten die (kultur)relevantesten Impulse aus der interdisziplinären Praxis. Interaktion zwischen Menschenkörper und Maschinenschnittstelle sowie Transformation zwischen kognitiver und digitaler Information beschreiben weiterhin ein aktuelles medienwissenschaftliches Interessengebiet.

Bedeuten die kursierenden medientheoretischen und –praktischen Diskurse eine automatische Degradierung des organischen Körpers zur mangelhaften Schnittstelle zwischen dem Einzelnen-in-(s)einem-Körper und dem Computerraum-in-allen-Köpfen? Zunehmend gewichtige theoretische Reflexionen einer breiten biokörperaffirmativen Praxis verweisen auf fruchtbare Nischen für die "veraltete Hardware" und ihre biologisch immanenten multimedialen Kommunikationspotentiale. Wie revidieren wir nun die Visionen des total aufgerüsteten Technokörpers zu einem realisierbaren - tatsächlich bereits mehrfach realisierten – „nachhaltigen Cyborg“? Es scheinen sich erste künstlerisch sowie technologisch plausible Positionen anzubieten, die zwischen einer ganzheitlichen Empfindung des (eigenen) Körpers und der partikularen, analytisch-funktionalistischen Perspektive der Maschine oszillieren. Artverschiedene Zeichen und Impulse der biotechnischen Menschmaschine können aufeinander abgestimmt werden, allerdings scheint es angemessener, an aufeinander abgestimmten Diskursen und Praxen sowie an deren Reflexion zu arbeiten. Welche Bedingungen und Möglichkeiten bieten sich angesichts neuester technologischer und ästhetischer Entwicklungen für eine ausgewogene Praxis von Medienkunst, -wissenschaft und -nutzung? Wie (be)schreibt sich in diesem interdisziplinären Feld eine Ökologie des elektronischen Raumes, die sich der verschiedenen Körperkulturen bewusst bleibt - und wie kann sie konkret umgesetzt werden?

Im Schnittbereich von Wissenschaft, Kunst und Technik bemüht sich die vorliegende Arbeit um Erschließung innovativer Impulse zu einem nach wie vor relevanten Thema, dem (mannigfaltig zu verstehenden und zu realisierenden) Körper-im-Raum – sowie um Begründung von Methoden seiner medial und diskursiv gerechten Erfassung, dies sowohl aus kulturkritischer und diskursanalytischer wie auch aus einer konkret praktischen Perspektive der Medienkunst, -didaktik und sogar -technologie. Die Frage nach einer Rematerialisierung als positiver Miteinbeziehung des menschlichen Körpers samt seines natürlichen Erfahrungs- und Entwicklungspotentials wird aufgrund aktuellster Forschungsergebnisse positiv beantwortet. Grundlegende Untersuchungen verweisen auf die wahrhaft interdisziplinären und multimedial offenen (also auch konkret körperlich besetzten) Experimentalräume der computerunterstützten Theater-, Tanz- und Installationsprojekte sowie einiger Initiativen in der Technikindustrie, bei denen ein konstanter Kreativitätsüberschuss von bedeutender (diskursiver sowie praktischer) Symptomatik zu entstehen scheint. Als Gegenmythos zum entmaterialisierenden Cybereskapismus bestätigt sich bereits eingehend die These von erneuter Aufwertung und Emanzipation der (immer wieder übereilt verabschiedeten) Physis im Interesse eines ökologisch ausgewogenen Umgangs mit neuer Technik. Vor diesem Hintergrund sollen konkrete Vorschläge exemplifiziert und plausible Visionen präzisiert werden:

Stellenweise als künstlerisch, wissenschaftlich sowie erfahrungsgemäß begründete Hypothesenbildung, meistens jedoch erst als praktisch informierter Diskurs erfolgt eine Modifizierung von Grundkonzepten (Körper, Raum, Schnittstelle, Interaktivität), die wiederum die alltägliche kreative Körper- und Mediennutzung zyklisch beeinflussen können (reflektierte Theorie, erlebte Praxis), dies sowohl im intimen, selbstreflexiven als auch im öffentlich-diskursiven, massenmedialen Feld. Die daraus erwachsende theoretische Reflexion dient als Basis für die praktische Gestaltung von umsichtig regulierten Diskursen und Programmen innerhalb der relativ vorgegebenen, jedoch ebenfalls aufweichenden Strukturen und Systeme (Medien- und Kunstpädagogik, interdisziplinäre Einrichtungen, außerinstitutionelle Initiativen). Zu deren Fundierung werden jedoch nicht nur die Diskurse der wissenschaftlichen Theoriebildung, sondern auch die prägendsten Konzepte der Medienkunstpraxis - sowohl interaktive Systemtechnik als auch menschliche Informationsverarbeitung im interaktiven Raum - einer stellenweise genaueren Sondierung, Analyse und Kritik unterzogen. Untereinander dynamisch ausgewogene Konzepte von Projektarbeit, Dialog und Ökulog modellieren schließlich ein Novum im Bereich der interdisziplinären Kooperation. Die hypermedial (am vernetzten Multimediacomputer) zu erfahrenden Modelle verstehen sich als konkrete Vorschläge für ein theoretisch (Diskurs- und Programmbildung) sowie praktisch (Struktur- und Systembildung) ausgewogenes Kommunizieren und Handeln sowohl auf individuellem als auch auf kollektivem Niveau. Damit dienen sie als eine erste theoretisch-praktische Orientierungshilfe für den vielfach aufkommenden medial hybriden Realitätskomplex, das Zeitalter der gemischten Realitäten.

Im Aufbau der Dissertationsarbeit bieten der Körper, seine elektronisch durchsetzte interne und externe Räumlichkeit und deren neue interaktive Qualitäten - zunächst in linearer (obwohl grundsätzlich hyper)textueller Form - einen unorthodoxen theoretisch-historischen Hintergrund. Somit skizzieren sie auch den aktuellen (mythen-, metaphern- und stereotypenreichen) Forschungsstand. Genauer werden die Konzeptionen von Körper und Raum nochmals unter Aspekten wie Interaktivität, Schnittstelle, Telematik, Illusion/Immersion betrachtet. Auf dem Hintergrund ihrer Konfrontationen unterbreitet sich eine exemplarisch besetzte Palette einiger "geschichtemachender" Projekte aus der hochproduktiven "hybriden Kunstszene". Von den netz- und datenträgerbasierten Arbeiten über (lokal) interaktive elektronische Rauminstallationen zu den (global vernetzten) Mischformen der „telematischen Performance“ und den sog. "Mixed Reality Environments" bemüht sich die Untersuchung stets, für aktuelle Anregungen aus der Praxis offen zu bleiben - sowie einige selbst anzubieten (siehe insb. die elektronische Version samt Videodokumentation). Anhand tiefgreifender Empirie sollen schließlich sowohl die fruchtbarsten praktischen Ansätze als auch einige wichtige theoretische Konzepte und Modelle für weitere Forschung ausgelotet und stellenweise präzisiert werden. Dies umfasst eine Durchführung und komplexe Analyse von Video-Interviews, nähere Auswertung von Workshopdokumentationen Dritter, Symposien- und Mailinglist-Beiträgen wie auch des eigenen Dokumentationsmaterials, darüber hinaus auch Selbstbeobachtung sowie Partizipation des Verfassers in einer fortlaufenden wissenschaftlich-künstlerischen Praxis (Workshops, Performances).

Die methodischen Ansätze der Kommunikativen Sozialforschung ermöglichen eine zyklische Verifizierung bzw. Modifikation von Hypothesen sowie eine kommunikativ intensive Rückkopplung der Forschungsergebnisse an das primär untersuchte System (interdisziplinäre
Gruppe "Palindrome IMPG") - und nicht zuletzt ihre elektronische, hypermediale Modellierung. Die intensive, sogar intime Kommunikation und praktisch produktive Kooperation mit der untersuchten Gruppe resultiert nicht nur in (einmaliger) Verbesserung des untersuchten Systems, sondern auch in (längerfristiger) beidseitiger und projektübergreifender Zusammenarbeit. Zudem bietet die Kommunikative Sozialforschung eine besonders einsatzfähige, methodische Grundlage zur Untersuchung eines solch hochkomplexen Phänomens wie interdisziplinäre Kooperation im Begegnungsfeld zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik. Eine elektronische (umfassende) Speicherung von affektiven Daten und ihre digitale (detaillierte) Auswertung erweitert die Kombinationsmöglichkeiten zwischen verschiedenen Medien- und Wissensformaten, die eine objekt- und i. d. S. komplexitätsgerechte Darstellung im interdisziplinären Kontext ermöglichen. Nicht nur die personalisierten Interviews, sondern auch diverse Videodokumentationsquellen sowie Strategien der teilnehmenden Beobachtung und Selbstreflexion fließen in eine eigenständige intermediale, (hyper)textuelle, hypergraphische sowie performative Neuschöpfung.

Interviews und Kollaborationsprojekte mit KünstlerInnen, TechnikerInnen und WissenschaftlerInnen wie auch die Analyse ihrer vernetzten Kommunikation und Publikation (Diskursbildung) liefern Material für eine repräsentative Bestandsaufnahme und dienen als Anregungen und Argumente zur fortwährenden, sowohl kritischen als auch visionären Ausbildung einer fruchtbar hybriden (interdisziplinären, intermedialen) Kulturpraxis. Einzelne Erfahrungen und Untersuchungsergebnisse fließen gleichzeitig in die Entwicklung einer mehrfach ausgewogenen und komplexen Medientheorie-als-Praxis, die nicht nur in der wissenschaftlichen bzw. didaktischen, sondern auch in der künstlerischen Tätigkeit des Verfassers und seiner sozialen Umgebung ihren Niederschlag finden sollen (konkrete Projekte innerhalb und außerhalb von Institutionen). Neben einer explorativ angelegten CD-ROM samt online Version umfasst das Projekt noch eine Performancereihe im Rahmen der Workshops sowie als Teil des öffentlichen Vortrags zur Promotion.

Mit zahlreichen Ausführungen allgemeiner kultur- und technologiekritischer Aspekte über Körper im elektronischen Raum sowie durch eine aktualitätsbemühte, de- sowie präskriptive Schwerpunktsetzung dimensioniert die vorliegende Arbeit ihre Ansprache in zweierlei Ordnungen: Zunächst richtet sie sich mit ihren konkreten Praxisbeispielen, Vorschlägen und Modellen an einen disziplinär gemischten, obwohl größtenteils milieukohärenten RezipienetInnenkreis der medienkünstlerischen sowie –pädagogischen Praxis. Die Modellierungen und zahlreichen Implikationen zur jeweiligen disziplinären Perspektivierung dienen jedoch auch zur Diskursreflexion in verschiedenen theoretischen Kontexten wie etwa Körper- und Raumdiskurs(kritik), Theorie Neuer Medien, Tanz- und Theaterwissenschaften, teilweise Performancetheorie und Kunstgeschichte. Durch ihre formatspezifische Zugänglichkeit (etwa auch kostenlos online), zahlreiche informationsreiche Ausführungen zu Technologien und Techniken der neuen Medien(kunst) und einen kulturbewusst geschichteten und argumentierten Eklektizismus adressiert das Projekt nicht zuletzt einen breiteren Kreis von NutzerInnen, denen ein ermunterndes Angebot an Einstiegspunkten in die neumediale Theorie und Praxis sowie an deren Reflexionsmöglichkeiten unterbreitet wird.

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Peter Purg,
Universität Erfurt,
Literaturwissenschaft / Medien
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